Auswegslos

Es war dunkel und Tara hatte furchtbare Angst. Nach dem Tennisunterricht hatte sie den letzten Bus verpasst und ihre Eltern waren heute Abend nicht daheim, daher musste sie wohl oder übel zu Fuß nach Hause gehen. Sie stampfte durch den Schnee und hörte Schritte hinter sich. Sie konnte und wollte sich nicht umdrehen, um zu sehen wer sie da verfolgte, denn sie bekam Panik und bewegte sich immer schneller fort. Erst als sie kurze Zeit später nichts mehr hörte und sich wieder beruhigt hatte, schaute sie sich um. Doch sie sah keine Menschenseele. Aufgelöst ging sie weiter. Es waren nur noch ein paar Straßen bis zu ihrem Zuhause. "Hey!", jemand packte sie von hinten an die Schulter. Tara fuhr vor Schreck zusammen, dann sah sie einen Jungen, den sie auf 18 Jahre schätzte. Es war dunkel, aber die Straßenlaterne spendte etwas Licht, so konnte Tara die schmutzige, alt aussehende Kleidung und das ungepflegte Haar ihres Gegenübers erkennen. Aber wer war er und was wollte er von ihr? "Her mit der Kohle!" Tara wusste nicht, wovon er sprach und konnte ihm deshalb nicht weiterhelfen. "Na los!" der Junge machte keinen freundlichen Eindruck. Also griff Tara in ihre Hosentasche und holte einen Fünfeuroschein heraus. Würde das ihm genügen? Zitternd vor Angst reichte sie ihm den Schein. "Mehr hast du nicht?" - "Nein." Diesmal antwortete sie ohne zu zögern, denn sie wollte ihn nicht verärgern. "Bis dann!" grinste der Junge frech und zog so schnell von dannen, wie er auch aufgetaucht war. Tara konnte noch immer nicht wahrnehmen, was da gerade geschehen war. Der Junge hatte sie also verfolgt und forderte Geld. Sie versicherte sich noch einmal, dass er auch wirklich weg war, denn sie wollte nicht, dass er sie bis nach Hause verfolgt.

Am nächsten Tag, nach der Schule saß sie mit ihren besten Freunden, Charlotte und Raphael in einem Café. Hier trafen sie sich jede Woche, nur nicht im Sommer, da gingen sie lieber Eisessen. "Du, Tara? Sag mal, ist irgendwas mit dir los?" fragte Charlotte, die besorgt klang. "Wieso?" wollte Tara wissen. Sollte sie den beiden erzählen, was gestern geschehen war? Es war ja eigentlich nichts Dramatisches passiert. Immerhin sind fünf Euro ja nicht viel und solange der Typ nicht wieder auftauchen würde, wäre ja alles wieder okay. Trotzdem hatte Tara sich nicht einmal getraut, ihren Eltern davon zu erzählen. Die hatten im Moment genug andere Probleme und stritten sich in letzter Zeit immer häufiger, wegen irgendwelchen Kleinigkeiten. Und zur Polizei wollte Tara auch nicht gehen. Sie hatte ja noch nicht einmal irgendwelche Beweise. Aber trotzdem lies dieser Vorfall Tara keine Ruhe. Der fremde Junge hatte gesagt: 'Bis dann.', würde er wieder kommen?
"Du bist heute so still und es kommt mir so vor, als wärst du mit deinen Gedanken ständig ganz woanders." behauptete Charlotte. Raphael stimmte ihr zu. "Nein, eigentlich ist alles okay." verteidigte sich Tara und zwang sich zu einem Lächeln. Sie entschied sich den beiden nichts zu sagen. Die drei Freunde unterhielten sich noch eine Weile und dann verabschiedeten sie sich voneinander. Heim ging Tara zu Fuß, in der Hoffnung dem Jungen nicht noch einmal über den Weg zu laufen.
Aber dieser Wunsch blieb leider unerfüllt. Ungefähr an derselben Stelle, an der sie ihm am Vortag schon begegnet war, stand er auch diesmal. Hätte sie ihn vorher wenigstens gesehen, dann wäre sie weggelaufen, aber der Junge tauchte aus dem Nichts auf! Vermutlich hatte er sich hinter einem Gebüsch versteckt und dann auf sie gewartet. Aber woher wusste er, dass sie hier wieder vorbeikommen würde? Einen Moment lang hasste Tara sich dafür, dass sie denselben Weg wie gestern gewählt hatte und nicht einen anderen gegangen war. "Hi!" begrüßte er sie. Tara schaute sich möglichst unauffällig um, ob denn keiner in der Nähe war, der ihr helfen könne. Aber wieder war keiner da und Tara bekam es mit der Angst zu tun. "Nächste Woche bringst du mir 200 Euro! Klar?" 200 Euro? "Wie zum Teufel soll ich in einer Woche soviel Geld auftreiben?", dachte sie. "Hast du mich verstanden?!" , schrie er sie an und drohte ihr: "200 Euro! Du hast eine Woche Zeit!" Tara nickte. Vor Angst bekam sie keinen Ton mehr heraus. Sollte Tara ihm wirklich die 200 Euro geben? Abgesehen davon, dass es für sie unmöglich schien, soviel Geld in einer so kurzen Zeit aufzutreiben, ohne ihre Eltern um Hilfe zu bitten, was würde er danach von ihr verlangen? Letztens waren es nur Fünf Euro. Nun sind es schon 200! Was wollte er noch alles? Sie konnte sich doch nicht einfach so ausbeuten lassen. Aber vielleicht würde er sich ja zufrieden stellen, nachdem er das Geld erhalten hatte und sie dann in Ruhe lassen. Vielleicht würde er sich aber auch ein neues Opfer suchen und vielleicht würde ein anderer sich ja wehren? Tara war gerade mal 15 Jahre alt. Und sie als Mädchen konnte doch nichts gegen einen drei Jahre älteren Jungen tun?

Zu Hause angekommen, nahm Tara ein warmes Bad. Sie wollte sich entspannen und über die Situation nachdenken. Es war schwer für sie, alleine mit der Sache fertig zu werden, deshalb rief sie ihre beste Freundin Charlotte an. Sie wollte ihr alles erzählen und sie um Rat bitten. Charlotte würde ihr bestimmt weiterhelfen, und wenn nicht, dann war es wenigstens schön für Tara, dass sie sich einer Person anvertraut hat. Alleine wurde sie nämlich nicht damit fertig. Charlotte ging ans Telefon.
"Hallo, Charlotte." begrüßte Tara sie. "Hi, wie gehts?" Tara wollte nicht lange drum herum reden und kam deshalb schnell zum Punkt; "Im Moment eigentlich nicht so toll." - "Was ist denn los?" fragte Taras Freundin nach. "Also...", fing Tara an, "gestern Abend nach dem Tennis bin ich nach Hause gegangen, da habe ich solche merkwürdigen Schritte hinter mir gehört! Es hörte sich so an, als würde mich jemand verfolgen!" - "Und?" fiel ihr Charlotte ins Wort. "Da war so ein Junge. Der wollte, dass ich ihm Geld gebe. Ich hab ihm dann fünf Euro gegeben. Und naja, heute Nachmittag als ich nach Hause ging, war er wieder da. Er meinte, ich soll ihm nächste Woche 200 Euro geben." Die zwei Freundinnen schwiegen eine Weile. "Hat er dich bedroht?" - "Ja, der hat mir schon ziemliche Angst eingeflößt, sonst hätte ich das doch nicht mit mir machen lassen." - "Was sagen deine Eltern dazu?" - "Die wissen das noch gar nicht. Ist auch besser so, ich möchte die zwei echt nicht mit meinen Problemen quälen, die haben genügend andere Sorgen." - "Okay." meinte Charlotte verständnisvoll. "Was willst du jetzt tun?" "Ich weiß nicht! Soviel Geld kriege ich doch nicht zusammen in nur einer Woche. Aber ich habe Angst, dass er mir was antut, wenn ich es ihm nicht gebe." - "Dann geh doch zur Polizei?" - "Was will die denn machen? Soll ich da ankommen und sagen: 'Ein Junge wollte, dass ich ihm Geld gebe und ich war auch noch so doof und habe es getan. Nun bin ich paranoid. Helfen Sie mir.'? Außerdem habe ich überhaupt gar keine Beweise. Ich weiß weder wo der Junge wohnt, noch wie er heißt." - "Du könntest ihn aber doch bestimmt beschreiben!" schlug Charlotte vor. Aber das verneinte Tara. "Leider kann ich dir keinen anderen Rat geben. Entweder du gibst dem Jungen also das Geld, in der Hoffnung, dass er dich danach in Frieden lässt, oder du gibst es ihm nicht und lässt dich von der Polizei schützen."
Tara war ein wenig enttäuscht. Normalerweise war Charlotte alles andere als diejenige, die sich keinen Deut um die Probleme ihrer besten Freundin scherte, aber heute kam es Tara so vor, als würde sie sie nicht ernst nehmen.

Sie blieb noch ungefähr 15 Minuten im Badewasser, währenddessen versuchte sie den Gedanken und die Angst vor der kommenden Woche zu unterdrücken.
Jemand klopfte an der Badezimmertür. "Tara? Kommst du essen?" hörte sie ihre Mutter fragen. "Klar, einen Moment noch." Tara war schon halb angezogen, zog sich nun noch Hose und Socken an, und ging hinunter an den Küchentisch. Es gab Ravioli, ihr Lieblingsessen. Sie setzte sich hin und versuchte sich nichts von ihrem ängstlichen Gemüt anmerken zu lassen. Ihre Mutter merkte nämlich fast immer, wenn etwas mit ihr nicht stimmte. Also musste Tara nun einen "Alles-ist-in-bester-Ordnung"-Blick aufsetzen. Und tatsächlich, ihre Eltern stellten keine blöden Fragen.

Eine Woche später am Tag, an dem sie das Geld an den fremden Jungen übergeben sollte, war Tara mehr von sich selbst überzeugt denn je. Sie würde nach der Schule zu Charlotte mit nach Hause gehen. Diese wohnte nicht in der Nähe der Stelle, an der der Junge vermutlich auf sie warten würde, daher würde er das geforderte Geld nicht bekommen, welches Tara sowieso nicht gedachte ihm zu geben, und weil er nicht wissen würde wo Tara ist, konnte er ihr auch nichts antun. Tara fragte sich, was das denn auch nur für ein Penner war, der Mädchen schlägt. Tara packte ihre Schultasche und machte sich dann auf den Weg zur Schule. Vergnügt ging sie die Straße entlang. Und wieder packte jemand sie von hinten an die Schulter. "Hi." Tara erkannte die Stimme. Ihr Herz schlug vor Furcht doppelt so schnell wie sonst und sie bekam große Panik. Es war der Junge. Wieso kreuzte er schon so früh auf? Wieso kam er nicht erst nach der Schule, wie auch sonst immer? "Hast du die Kohle?". Er schien ungeduldig. "Nein." - "Willst du mich verarschen, Kleine?". Darauf gab Tara keine Antwort. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Der Junge griff in seine Hosentasche und zog ein Messer heraus. Tara wurde starr vor Angst. "Komm heute um fünf Uhr zum Kaufhaus! Sonst kannst du dich auf was gefasst machen...",drohte der Junge ihr. Taras Plan, dass sie einfach nicht anwesend sein würde, wenn der Junge sie erwartete, ging also in die Hose. Und sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte, als dem Jungen zu gehorchen Er würde sie früher später doch noch kriegen.

Um Punkt fünf Uhr stand Tara deshalb also vorm Kaufhaus. Die Angst die sie hatte war viel größer als sonst. Was verlangte er nun von ihr? Der Junge kam ein paar Minuten zu spät. Als er sie sah nickte er und kam auf sie zu. "Nun, da du kleine Göre scheinbar zu doof warst, um das Geld aufzutreiben, gehst du jetzt darein und besorgst mir Bier!" verlangte er. Tara zögerte. Sie hatte kein Geld dabei. Aber offenbar verlangte der Junge auch gar nicht, dass sie ihm Bier kaufte. Es hörte sich eher so an, als wolle er, dass sie es ihm klaut. Aber sie konnte doch nicht stehlen! "Okay" brachte sie mit zitternder Stimme heraus. Ihr war nach Heulen zumute, deshalb musste sie gegen die Tränen ankämpfen. "Beeil dich!" befahl er ihr. Tara ging in Richtung Kaufhaus. Ihre Knie zitterten vor Furcht. Sollte sie wirklich Bier für ihn stehlen? Das konnte sie doch nicht machen. Aber wenn sie es nicht tun würde, dann würde er wieder gewalttätig werden und vielleicht würde er wieder zu seinem Messer greifen, das er ihr heute Morgen schon vorgeführt hatte, als sie die 200 Euro nicht dabei hatte. Alles machte keinen Sinn mehr. Wenn sie sich weigern würde ihm sein Bier zu klauen, dann würde er morgen nach der Schule wieder aufkreuzen und sie noch mehr unter Druck setzen. Das war nicht das, was sie wollte. Aber sie wollte auch nicht zur Diebin werden! Tara schwitzte vor Angst. Sie musste ihm das Bier einfach besorgen. Aber was ist, wenn sie erwischt werden würde? Tara sah sich um. Eine Weile beobachtete sie die Menschen um sich herum. Auch sah sie immer wieder zu den Angestellten herüber.

Nach vielem Überlegen und Zögern ging Tara zu der Frau an der Kasse. Sie musste einfach Hilfe hohlen. Was sollte Sie sonst anderes tun? Sie wollte nicht stehlen und wenn sie ohne Bier zurückkehren würde, dann hätte der Junge ihr womöglich noch etwas schlimmes angetan. Sie war also hier drinnen gefangen, und ohne Hilfe würde Sie nicht weiterkommen. "Entschuldigung, haben Sie vielleicht kurz Zeit für mich?" Tara versuchte das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. "Natürlich." Nachdem Tara der Kassiererin erzählt hatte, dass der Junge sie bedrohte und von ihr erwartete, dass sie für ihm Bier stehlen sollte, rief sie die Polizei. Sie griff sofort drastich ein! So erleichtert war Tara in ihrem ganzen Leben noch nicht gewesen.

Tara ärgerte sich darüber, dass sie ihren Eltern nicht schon viel früher alles anvertraut hatte und mit ihnen zur Polizei gegangen war. Sie hätte es nicht soweit kommen lassen sollen. Aber nun würde der Junge sie endlich in Ruhe lassen.

GRICE Lisa